Wenn ich es nur zuließe

Ich sitze in einer Bar mit Freunden bei einem gemeinsamen Bier. Und dort sehe ich dich. Zuerst deine Augen, dann dein Gesicht. Ich sehe deine Lippen, deine Haare, sehe wie sie sich bewegen, sehe wie du dich bewegst. Ich sehe dich. Ich schaue an deinem Körper entlang hinunter zu deinen Beinen und sehe weibliche Eleganz. Ich sehe, wie du gehst, wie deine Hüften sich im Takt deiner Schritte wiegen, wie du den Kopf schwenkst, ihn zur Seite neigst. Ich sehe, wie du den Blick deiner Augen von unten nach oben führst, hinüber zu deiner Kollegin hinter dem Tresen und dann, von einem Moment auf den nächsten, beginnen deine Augen zu leuchten. Und ich sehe, wie du lächelst. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich, wie du lächelst. In diesem Moment bist du wunderschön für mich. Ja, du bist perfekt. Dein Lächeln löst etwas in mir aus, das mich den Atem anhalten lässt. Ganz kurz nur, kaum zu bemerken, von außen nicht zu sehen, aber dennoch wahrhaftig. Du hast mein Herz berührt.

Danach schaust du wieder zurück auf die Arbeit, die vor dir liegt, auf die Gläser, die noch nicht abgespült sind. Dein Blick verdunkelt sich spürbar. Er ist jetzt wieder so, wie er vor diesem Moment war. Ich denke darüber nach, warum du jetzt wohl so finster schaust. Eben noch hast du gelächelt und du warst wunderschön in meinen Augen. Auch jetzt noch bist du wunderschön, jetzt da du nicht mehr lächelst, doch nur wenige Augenblicke zuvor durfte ich erahnen, welch atemberaubende Wahrheit sich hinter deiner Maske aus finsteren Blicken verbirgt.

Ich rede mit meinen Freunden. Ich erzähle ihnen, dass ich dich interessant finde. Dass ich dich attraktiv finde. Sehr attraktiv sogar. Deine plötzliche Wandlung von verletzlicher Schönheit in unnahbare Kühle fasziniert mich unendlich. Das aber erzähle ich meinen Freunden nicht. Du bist wunderschön, und nicht nur das, du scheinst auch sehr klug zu sein. Du scheinst mir eine Art Lebenserfahrung zu besitzen, die dich irgendwann gelehrt hat, dein bezauberndes Lächeln, deine weibliche Eleganz, deine große Verletzlichkeit hinter einem Schutzwall aus grimmigen Blicken zu verbergen.

Ich rede mit meinen Freunden. Einer von ihnen sagt: Sprich sie doch einfach an. Wenn du sie interessant findest, dann sprich sie doch einfach an. Wahrscheinlich wirst du sowieso nicht so bald wieder hierher kommen. Wahrscheinlich werdet ihr euch sowieso niemals wiedersehen. Was also hast du schon groß zu verlieren? Geh einfach hin zu ihr und sprich sie an.

Mein Freund fragt mich, was ich schon groß zu verlieren habe. Ja, was eigentlich habe ich schon groß zu verlieren, wenn ich dich anspreche? Was habe ich zu verlieren, wenn ich für vielleicht fünf Minuten mit dir rede? Was habe ich denn schon groß zu verlieren, wenn ich weiß, wie du heißt? Was habe ich zu verlieren, wenn ich dir aus wenigen Zentimetern Entfernung in die Augen schaue und dir vielleicht noch einmal dieses unglaublich schöne Lächeln entlocke, das ich danach vielleicht nie wieder vergessen kann. Was habe ich dabei denn schon groß zu verlieren? Ich frage mich das, ich spüre in mich hinein und plötzlich erkenne ich, was ich zu verlieren habe... Ich habe dich zu verlieren. Ja das ist es. Ich habe dich zu verlieren.

Und mit einem Mal überkommt mich die Angst. Besser, ich spreche dich gar nicht erst an. So jedenfalls werde ich niemals erfahren, wie dein Name ist. Ich werde nicht wissen, wer du eigentlich bist. Dein wunderschönes Lächeln, das niemals mir galt, wird nicht die Möglichkeit haben, seine tiefen Furchen der Erinnerung in mein Herz zu graben. Einen Menschen, den ich nie kannte, den kann ich auch nicht verlieren. Und so bewahre ich mich davor, verletzt zu werden. Ich bewahre mich davor, schon wieder einen Menschen zu verlieren, der mir vielleicht einmal wichtig sein könnte. Der mir vielleicht sogar einmal die Welt bedeuten könnte, wenn ich es nur zuließe. Wenn ich es zuließe, dich zu verlieren.

 

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