Begegnungen zwischen Angst und Mut
Es ist kurz vor Mitternacht und ganz still hier in meinem kleinen Heimatort Bad Lippspringe. Ich gehe spazieren unter dem gelblichen Schein der Straßenlaternen. Führe wie so oft meine Kamera bei mir. Es hat fast den ganzen Tag geregnet und nun ist es neblig. Es regnet nicht mehr, aber ich kann die Feuchtigkeit riechen, die in der Luft liegt. Ich gehe langsam, ganz langsam und ich atme. Ein. Und aus. Die Luft ist wunderbar. Ich atme sie. Ein... Und aus...
Während ich so gehe, bleibe ich hier und da stehen. Ich betrachte die Dinge etwas genauer. Das Gras links neben mir glitzert feucht. Auch der Busch ist vom Regen noch ganz nass. Ich berühre seine Blätter vorsichtig mit meinen Fingerspitzen. Ich spüre die kühle Feuchtigkeit der nassen Blätter zwischen meinen Fingern und in meiner Hand. Ich spüre jeden einzelnen Tropfen auf jedem einzelnen Blatt. Ich fühle sie. Tief in mir. So wie ich vieles tief in mir fühle in den letzten Wochen und Monaten. Eigentlich seit einem Jahr schon. Und wieder einmal denke ich an dich. Und wieder einmal werde ich melancholisch. Oder sollte ich sagen traurig? Ja, ich bin traurig, denn ich vermisse dich.
Ich gehe weiter. Langsam. Ganz langsam. Schritt für Schritt. Ein. Und aus. Ein Mann mit Hund nähert sich hektisch von hinten. Ich stelle mich an die Seite, damit er vorbei kann. Der Hund springt an mir hoch. Möchte mich beschnuppern... Natürlich... Was auch sonst? Er ist halt ein Hund. Sein Herrchen wirkt genervt, zerrt sein Eigentum ruppig an der Leine und beschimpft es kurz. Im Weggehen wedelt der Hund mit dem Schwanz. Alles ist gut.
Ich gehe weiter. Biege spontan rechts ab, über die Straße, in eine Wohnsiedlung. Sehe dort wie das gelbliche Licht einer Straßenlaterne die Krone eines Baumes überzieht, während jedes seiner Blätter über unzählige, ungezähmte Zweige in den dunklen Himmel flieht. Ich bleibe stehen und hole meine Kamera hervor. Ihr Autofokus fährt vor und zurück. Ich hätte gern ein scharfes Bild von dem Baum also probiere ich es noch einmal. Vor. Und zurück. Wahrscheinlich ist es doch einfach zu dunkel. Der Autofokus findet nichts, woran er sich orientieren kann. Noch einmal probiere ich es. Vor. Und zurück. Vor. Und zurück. Ein. Und aus. Diese Kamera ist nicht die neueste, aber sie ist kompakt und macht wundervolle Fotos. Gemütlich ist sie und lässt sich Zeit. Vor. Und zurück. Aber sie findet nichts. Sie erinnert mich an mich.
Von rechts höre ich plötzlich Schritte. Ein Mann ist erschienen, offenbar aus dem Haus rechts neben mir. Nun steht er da im Schatten hinter einem Busch und beobachtet mich. Ich sehe ihn kaum. Nur eine leichte Silhouette zeichnet sich im Dunkeln ab. Ich sehe ihn nicht, aber er sieht mich. Was er wohl über mich denkt? Von einem Moment auf den anderen fühle ich mich nervös und gestresst. Ich fühle mich von diesem Mann dort drüben im Dunkel unter Druck gesetzt, weiter zu gehen, obwohl ich das eigentlich gar nicht möchte. Jetzt, genau jetzt möchte ich lieber hier stehen und schauen, wie das gelbliche Licht dieser Straßenlaterne auf die Blätter des Baumes fällt. Ist das verboten? Was möchtest du von mir, Mann im Dunkeln? Warum stehst du dort drüben im Schatten und beobachtest mich? Warum trittst du nicht einfach ins Licht?
Und da ist sie wieder, diese Angst, die uns oft umtreibt und die uns das Schlechte vor dem Guten vermuten lässt. Ich meine die Angst, die uns im Schatten verstecken und den Anderen argwöhnisch betrachten lässt. Ich möchte so nicht sein. Ich fühle mich nicht wohl unter den Blicken dieses Mannes, aber ich möchte auch nicht zulassen, dass dies der einzige Grund ist, aus dem ich weitergehe. Ich möchte dann weitergehen, wenn ich es für richtig erachte. Nicht dann, wenn meine Angst es mir diktieren möchte. Ich beschließe, sie zu erspüren, meine Angst. Ich möchte mir beweisen, dass nichts Schlimmes passiert, wenn ich noch ein Weilchen hier stehe und den Baum und das Licht betrachte. Ich versuche mich zu entspannen. Es ist nicht leicht. Ich atme. Ein. Und aus. Meine Gedanken kreisen um den Mann im Dunkeln, seine Blicke auf mich gerichtet. Ein. Und aus. Ich habe keine böse Absicht, also brauche ich auch keine Angst zu haben vor ihm. Ein. Und aus. Es wird nichts geschehen. Weder mir, noch diesem Menschen, der da im Dunkel sich verbirgt. Ein. Und aus...
Ich bleibe noch ein paar Sekunden stehen... und dann gehe ich weiter...